Eröffnung: 1. Oktober 1893 als Dalldorf Cremmener Bahn Nächster Bahnhof Richtung Kremmen: Eichborndamm

Schließung: 9. Januar 1984.        

Wiedereröffnung: 28. Mai 1995

Nächster Bahnhof Richtung Schönholz: Reinickendorf
Denkmalschutz: Nr 0912316 der Landesdenkmalliste Berlin Telegraphische Abkürzung: Wik für Wittenau Kremmener Bahn
Lage im Netz: Km 7,7 der VzG-Strecke 6183 Schönholz—Velten
 

 

 

 

 

 

 

Zum Titelbild: Die Baustelle für die neuen Wohnungen am heutigen Saalmannsteig am 30. Juli 1929. Nebenbei erfasste der Fotograf den Haltepunkt Wittenau Kremmener Bahn, dem dieser Beitrag gewidmet ist. Foto: Baugenossenschaft Reinickes Hof e.G.

 

 

 

Dalldorf - ein Bahnhof für die Irrenanstalt

 

Zugegeben: Die Überschrift für dieses Kapitel ist provokativ, aber bewusst so gewählt.  Das damalige Dalldorf (heute Wittenau) hatte seit 1877 einen Bahnhof an der Berliner Nordbahn, der auch noch näher am historischen Ortskern lag. Ein zweiter Bahnhof war daher nicht zwingend notwendig. Für die neue Nebenbahn untergeordneter Bedeutung nach Kremmen war die Anlage eines zweiten Bahnhofs Dalldorf der zu erwartende Besucherverkehr der Irrenanstalt der ausschlaggebende Punkt. Laut einem Bericht vom 14. Dezember 1886 erwartete die KED Berlin Das nicht realisierte Empfangsgebäude. Zeichnung von 1892. Archiv kremmener-bahn.netDas nicht realisierte Empfangsgebäude. Zeichnung von 1892. Archiv kremmener-bahn.netjährlich etwa 1200 Personen, die ihre Angehörigen besuchen wollen sowie etwa 300 Wagen Kohle für die Irrenanstalt. Das Empfangsgebäude des Bahnhofs war auf der Südseite geplant. Diese Planung führte fünf Jahre später bei der Genehmigung zum Bau der Strecke dazu, dass die KED Berlin die Anordnung des Empfangsgebäudes gegenüber den Minister für öffentliche Arbeiten rechtfertigen musste. Der Minister Ansicht des EG von der Seite. Zeichnung von 1892. Archiv kremmener-bahn.netAnsicht des EG von der Seite. Zeichnung von 1892. Archiv kremmener-bahn.nethätte das Empfangsgebäude sehr gern auf der Nordseite der Bahn gesehen, weil dort der Hauptverkehr zu Irrenanstalt stattfinde. Der Regierungsbaumeister Lehmann vom Baubüro Tegel entkräftete im Oktober 1891 den Einwand des Ministers. Die Südseite wurde gewählt, weil nur dort eine spätere Besiedlung möglich wäre. Außerdem würde ein Empfangsgebäude an der Nordseite den Gleisanschluss der Irrenanstalt behindern.

Auch bei der Benennung des neuen Bahnhofs gab es Meinungsverschiedenheiten. Wegen des bereits vorhandenen Haltepunktes an der Berliner Nordbahn sollte der Bahnhof an der Kremmener Bahn den Zusatz „Irrenanstalt“, „Eichbornplan“ oder „Berliner Straße“ erhalten. Die KED favorisierte den Zusatz „Berliner Straße“. Der Minister lehnte diesen Zusatz mit der Begründung ab, dass die Berliner Straße gänzlich in Reinickendorf liegt. Der Zusatz „Irrenanstalt“ sei für die übrigen Anlieger nicht akzeptabel. Der Minister legte für die neue Station mit Wirkung vom 22. Februar 1892 den Namen „Dalldorf (Cremmener Bahn)“ fest.

Der Haltepunkt Dalldorf (Cremmener Bahn) nahm am 1. Oktober 1893 zusammen mit der neuerbauten Strecke seinen Betrieb auf. Bereits am 20. Dezember 1893 wurde der Namenszusatz an die Schreibweise der Moderne angepasst. Kremmen wurde nicht mehr mit „C“ geschrieben. Folglich lag die Station ab sofort an der Kremmener Bahn.

Die Situation des Haltepunkts Dalldorf im Jahre 1895. Archiv kremmener-bahn.netDie Situation des Bahnhofs Dalldorf im Jahre 1895. Archiv kremmener-bahn.net 

Merkwürdig ist die Divergenz zwischen Planung und Ausführung des Haltepunkts. Ursprünglich war ein Empfangsgebäude für den Haltepunkt geplant, laut einem Gleisplan von 1895 kam nur die Wartehalle zur Ausführung. Auf diesem Plan besteht neben dem durchgehenden Gleis I ein weiteres Gleis II. Von diesem Gleis II zweigte das Anschlussgleis zur Irrenanstalt Dalldorf ab. Ich konnte den bisher ausgewerteten Unterlagen nicht entnehmen, ob das Gleis II nur für Aufstellung der Güterwagen oder auch zum Kreuzen von Zügen genutzt wurde.

  

 Zweigleisiger Betrieb 1899 und Hochlegung 1905

Querschnitt der neuen Bahnsteigs. Zeichnung von 1904. Archiv kremmener-bahn.netQuerschnitt der neuen Bahnsteigs. Zeichnung von 1904. Archiv kremmener-bahn.netEnde der 1890er Jahre setzte eine Randwanderung der Berliner Industrie an die damalige Peripherie Berlins ein. Im damaligen Stadtgebiet Berlins waren die Industriestandorte nicht mehr erweiterungsfähig. Das bekannteste Beispiel für diese Randwanderung ist die Maschinenfabrik August Borsig, die im Herbst 1898 am neuen Standort Tegel die Produktion aufnahm. Mit der Standortverlagerung stieg auch der Personenverkehr auf der Kremmener Bahn an. Nicht jeder Werkangehörige verlagerte seinen Wohnsitz in die neu entstehenden Wohngebiete nahe den Werken. Die Kapazitäten für den einsetzenden Werkverkehr reichten auf der eingleisigen Strecke von Schönholz bis Tegel nicht aus. Im Frühjahr 1899 stimmte der Minister der Öffentlichen Arbeiten dem zweigleisigen Ausbau zwischen Reinickendorf und Dalldorf zu. Wie so oft ging auch dieser Ausbau sparsam mit Altstoffen vonstatten. Am 10. August 1899 ging der erste zweigleisige Abschnitt der Kremmener Bahn in Betrieb. Der Haltepunkt Dalldorf war von dem Zeitpunkt an betrieblich ein Bahnhof. Jetzt machte sich wegen der gesteigerten betrieblichen und verkehrlichen Bedeutung des Bahnhofs das fehlende Empfangsgebäude bemerkbar. Ein Architekt namens Busse entwarf 1902 das neu zu erbauende Empfangsgebäude, das baugleich mit dem des Bahnhofs Schönholz vor der Hochlegung war. Doch rund zwei Jahre später musste das Empfangsgebäude wieder angepasst werden. Der zweigleisige Ausbau der Strecke bedingte ihre Hochlegung und damit eine Entkopplung mit den anderen Verkehrsträgern. Für den Fahrkartenverkauf war wie in Reinickendorf ein dem Treppenzugang vorgelagertes Dienstgebäude vorgesehen. Warum nicht die Räumlichkeiten des Empfangsgebäudes genutzt wurden, lies sich nicht ermitteln. Der neue Mittelbahnsteig weicht architektonisch von den anderen Bahnhöfen der Strecke ab. Er ist der einzige Bahnhof der Kremmener Bahn mit den für die Berliner S-Bahn so typischen Vorortbahnhöfen mit gußeisernen Dachstützen. Die Akten geben leider keine Auskunft darüber, warum die Bauabteilung der KED ausgerechnet in Wittenau von dem Erscheinungsbild der anderen Bahnhöfe abwich. Am 1. Oktober 1905 nahm der neue Haltepunkt Dalldorf an der nun bis Tegel zweigleisigen Strecke seinen Betrieb auf. Drei Monate später, am 1. Januar 1906 stiegen die Reisenden in Wittenau (Kremmener Bahn) ein und aus. Der nachfolgende Exkurs erklärt wie es zu der neuen Namensgebung gekommen ist.

 

 

 

 

Das noch heute stehende Empfangsgebäude befand sich zuerst am Bahnhof Schönholz. Man hat einfach einen alten Plan aus der Schublade gezaubert. Archiv Kremmener-Bahn.netDas noch heute stehende Empfangsgebäude befand sich zuerst am Bahnhof Schönholz. Man hat einfach einen alten Plan aus der Schublade gezaubert. Archiv Kremmener-Bahn.net

 

 Gleisplan von 1902: Wittenau ist jetzt sicherungstechnisch ein Bahnhof. Zeichnung Archiv kremmener-bahn.netGleisplan von 1902: Wittenau ist jetzt sicherungstechnisch ein Bahnhof. Zeichnung Archiv kremmener-bahn.net

 

 

 

 

Exkurs: Von Dalldorf zu Wittenau

 

In Wittenau, heute ein Ortsteil des 20. Berliner Verwaltungsbezirks Reinickendorf, weist etwas versteckt der Taldorfer Weg auf den ursprünglichen Ortsnamen Dalldorf hin. Das Dorf, erstmalig 1322 urkundlich erwähnt, wurde vermutlich um 1230 gegründet. Die Sieder hatten ostfriesischen Migrationshintergrund. Dahinter steckt aller Voraussicht nach auch der Name Dalldorf. Das ist der altniederdeutsche Name für Taldorf.[1] Wo ein Tal ist, muss es einen Berg geben. Nun muss man sich die topographischen Relationen vor Augen halten. Wer aus dem platten Ostfriesland in den hügeligen Barnim zieht und auf den Steinberg aufblickt, wähnt sich im Tal. Bis 1874 hatte sich niemand an den Ortsnamen gestoßen. Die Stadt Berlin wollte weit vor ihren Toren geisteskranke Menschen unterbringen. Sie erwarb von der Gemeinde Dalldorf Land zum Bau einer Städtischen Irrenanstalt, die 1879 ihren Betrieb aufnahm. Der Name Dalldorf geriet in Verruf. Allein die Silbe „dall“ klang nach „nicht normal“. Einer Anekdote zufolge kauften Reisende, die mit dem Zug nach Dalldorf fahren wollten, am Stettiner Bahnhof lieber eine Fahrkarte nach Eichbornstraße oder auf der Nordbahn nach Waidmannslust, weil sie befürchteten, als Dalldorfer Bewohner vom Fahrkartenverkäufer mit dem Spruch „da jehörste hin“ diskriminiert zu werden. Die Dalldorfer wollten die negative Assoziation, die mit ihrem Dorfnamen zusammenhing, nicht länger hinnehmen. Am 24. Januar 1903 stellte die Gemeinde Dalldorf an den Landrat des Kreises Niederbarnim einen Antrag auf Umbenennung, der nach über zwei Jahren Wartezeit am 23. August 1905 genehmigt wurde. Nach dem verdienten Amtsvorsteher Peter Witte sowie der Lage der Gemeinde auf dem flachen Land (Au) hieß die Gemeinde fortan Wittenau. Die Heilanstalt nannte sich fortan Wittenauer Heilstätten. Ob sich die Wittenauer damit einen Gefallen getan haben? Die Assoziation der Heilanstalt mit Wittenau blieb weiterhin bestehen.

 

 

 Die Zeit von 1910 bis 1984 

 

Am 1. Oktober 1910 nahm die Kremmener Bahn den Hauptbahnbetrieb auf. Infolge des immer dichter werdenden Zugverkehrs wertete man den Haltepunkt Wittenau Kremmener Bahn zu einer Blockstelle für die Richtung nach Tegel auf. Das Blocksignal A teilte den Abschnitt von Reinickendorf nach Eichbornstraße in einen weiteren Blockabschnitt auf.

 

Das Empfangsgebäude als Kriegsgefangenenlager? Nur Planung oder Wirklichkeit? 12. November 1915. Archiv kremmener-bahn.netDas Empfangsgebäude als Kriegsgefangenenlager? Nur Planung oder Wirklichkeit? 12. November 1915. Archiv kremmener-bahn.netMitten im Ersten Weltkrieg stellte das Eisenbahnbetriebsamt 6 am 12. November 1915 einen Antrag zur Nutzung des Empfangsgebäudes als Unterkunft für Kriegsgefangene, der am 23. November 1915 genehmigt wurde (wie schnell Behörden arbeiten können, wenn’s der Sache dient!). Leider sagen die Akten nichts darüber aus, warum ausgerechnet im Empfangsgebäude Kriegsgefangene untergebracht werden sollten. Eine mögliche Erklärung liefert die Zahnradfabrik Friedrich Stolzenberg & Co, die in unmittelbarer Nähe zum Bahnhof Wittenau Kremmener Bahn lag. Es ist möglich, dass die Kriegsgefangenen in diesem kriegswichtigen Betrieb Zwangsarbeit leisten mussten.

Am 1. Oktober 1920 veränderte Berlin seine Stadtfläche. Mit der Bildung von Groß-Berlin wurde die Gemeinde Wittenau ein Ortsteil des 20. Berliner Verwaltungsbezirks Reinickendorf. Der Bahnhof Wittenau Kremmener Bahn lag seitdem auf Berliner Gebiet. Rund sieben Jahre später, am 16. März 1927, hielten erstmals am Bahnhof Wittenau die neuartigen elektrischen Vorortzüge, die als spätere Berliner S-Bahn Verkehrsgeschichte schreiben sollten. Bis zu diesem Zeitpunkt bedienten nur die Wittenauer Heilstätten und die Zahnradfabrik Friedrich Stolzenberg & Co den Verkehrsbedarf des Bahnhofs. Das sollte sich zwei Jahre später ändern: Die Baugenossenschaft Reinickes Hof ließ direkt an der Trasse der Kremmener Bahn am heutigen Saalmannsteig neue Wohnungen bauen. Die neue Anwohnerschaft hatte einen attraktiven zehn Minuten Takt in das Stadtinnere direkt vor der Haustür.

 Eine schöne Stimmung: Doppeltelegraphen, das Einfahrsignal F zeigt freie Fahrt. So stellt man sich Eisenbahn vor. 1929 Foto Baugenossenschaft Reinickes HofEine schöne Stimmung: Doppeltelegraphen, das Einfahrsignal F zeigt freie Fahrt. So stellt man sich Eisenbahn vor. 1929 Foto Baugenossenschaft Reinickes Hof

 

Außerbetriebnahme der Blockstelle Wik zum 31. März 1934. Amtsblatt der Rbd Berlin 1934 Nr 257Außerbetriebnahme der Blockstelle Wik zum 31. März 1934. Amtsblatt der Rbd Berlin 1934 Nr 257Am 31. März 1934 ging die Blockstelle Wittenau (Wik) außer Betrieb. Diese Blockstelle galt nur für die Richtung Reinickendorf­­—Eichbornstraße. Auf Grund der neuen elektrischen Züge, die eine höhere Anfahrbeschleunigung als die Dampfzüge aufwiesen, war die Blockstelle Wik obsolet geworden. Wittenau war seitdem betrieblich ein Haltepunkt der freien Strecke.

Übrigens: Der Haltepunkt Wittenau war über die Straßenbahnlinie 68 an das weitere ÖPNV-Netz Berlins angeschlossen. Wer bösartig war, empfahl seinen Mitmenschen zwischen 1924 und 1944 die Fahrt mit dem Spruch "Mensch, fahr bloß mit der 68, da kannste nich verkehrt fahren!" Warum? Die Straßenbahnlinie verband zwei Irrenanstalten, die Wittenauer mit der in Herzberge. War diese Linienführung Absicht oder Zufall?

Das Ende des Zweiten Weltkriegs überstand der Haltepunkt Wittenau unbeschadet. Kriegsbedingt musste er bis zum 11. Juni 1945 ohne Personenverkehr auskommen. Ab dem 11. Juni 1945 verkehrte vor- und nachmittags ein Dampfzug. Zwei Monate später, am 13. August 1945, verdichtete die Deutsche Reichsbahn das Verkehrsangebot auf einen 120-Minuten-Takt. Bis 1947 demontierte die Französische Besatzungsmacht das Gleis Tegel—Schönholz. Durch die erzwungene Eingleisigkeit konnte der Haltepunkt bis 1961 nur in einem 30-Minuten-Takt bedient werden. Am 15. Oktober 1961 konnte die Deutsche Reichsbahn das Angebot auf den noch heute bestehenden 20-Minuten-Takt verdichten. Die neue Angebotsverbesserung kam leider zu spät: Zwei Monate zuvor, am 13. August 1961, riegelte die DDR ihre Grenze zu West-Berlin ab. Als Antwort auf diese Maßnahme boykottierten die West-Berliner Bürger fortan die S-Bahn.

 

Der West-Berliner Senat ließ 1976 eine Studie über die S-Bahn in den Westsektoren erstellen. Diese damals streng vertrauliche Studie beschrieb den Haltepunkt Wittenau wie folgt:

 

Hp. Wittenau Kremmener Bahn

Dieser Haltepunkt macht in seiner Beschaffenheit einen sehr primitiven Eindruck. Er ist wenig gepflegt. Die Bstgaufsicht (Bahnsteigaufsicht – Anmerkung des Autors) verkauft gleichzeitig Fahrkarten. Fahrtrichtungsanzeiger und Kioske sind nicht vorhanden.

Der Hp. wird von sehr wenig Reisenden benutzt.[2]

 

 

Ein Blick auf dem Bahnhof aus der S-Bahn. Die Aufsicht steht bereit für die Abfertigung des Zuges. 17. April 1982. Foto Frank MüllerEin Blick auf dem Bahnhof aus der S-Bahn. Die Aufsicht steht bereit für die Abfertigung des Zuges. 17. April 1982. Foto Frank Müller

 

Die umliegenden Anwohner nutzten die Autobuslinie 62 der BVG, die das Märkische Viertel mit dem Bahnhof Zoologischer Garten verband. Vom 15. bis 27. September 1980 konnten die wenigen verbliebenen Reisenden die S-Bahn nicht nutzen. Durch den zweiten Reichsbahnerstreik war der S-Bahn-Verkehr auf der Kremmener Bahn eingestellt. Auch nach der Wiederaufnahme des S-Bahnbetriebs stiegen die Fahrgastzahlen nicht mehr. Etwas über drei Jahre später war für elf Jahre Schluss mit dem S-Bahnbetrieb am Haltepunkt Wittenau Kremmener Bahn. Mit der Übernahme der Betriebsrechte durch die BVG am 9. Januar 1984 wurde der S-Bahnbetrieb nach Heiligensee eingestellt. Die BVG sah keinen dringenden Verkehrsbedarf für diese Strecke. An diesem Zustand änderte auch die politische Wende / Deutsche Einheit erst einmal nichts. Der Berliner Senat und die Deutsche Reichsbahn stritten um die Finanzierung der Wiederinbetriebnahme der Strecke für den öffentlichen Nahverkehr. Hinzu kam die Überlegung, einen anderen Verkehrsträger für die Strecke vorzusehen (Regionalbahn statt S-Bahn).

 

 

Am 9. Februar 1991 lag der Haltepunkt Wittenau im Dornröschenschlaf. Foto Lars MolzbergerAm 9. Februar 1991 lag der Haltepunkt Wittenau im Dornröschenschlaf. Foto Lars Molzberger

 

 Von der Schließung 1984 bis heute

 

Die Interessensgemeinschaft Eisenbahn in Berlin (IGEB) zeigte am 4. September 1993 was ohne großen Aufwand sofort möglich war: S-Bahnbetrieb. Zwischen den Bahnhöfen Tegel und Reinickendorf verkehrte eine S-Bahn der Baureihe 476 für den öffentlichen Fahrgastverkehr. Auf dem Haltepunkt Wittenau war die IGEB mit einem Infostand vertreten. Ende 1993 einigten sich die Deutsche Bahn und der Berliner Senat über die Wiederaufnahme des S-Bahnbetriebs bis Tegel. Die Bauarbeiten begannen am 24. Januar 1994. In der Broschüre „Berlin baut“ des Senator für Bau- und Wohnungswesen werden die Sanierungsmaßnahmen beschrieben:

 

„…In einem Nebenraum sind die für den Betrieb erforderlichen technischen Ausrüstungen untergebracht. Ferner konnte aufgrund seines guten baulichen Zustandes das ehemalige Kioskgebäude als Betriebsraum für Fernmelde- und Starkstrom anlagen Verwendung finden. Die Treppeneinhausung, hier ebenfalls eine Stahlkonstruktion, wurde durch Spezialanstriche gegen Korrosion geschützt. Anschließend erhielt sie einen neuen Farbanstrich.

Ebenso konnte die ursprüngliche Bahnsteigdachkonstruktion erhalten werden. Die historischen Stahlstützen vom Typ "Wannseebahn", wie man sie häufig auf Berliner S-Bahnhöfen sieht, wurden mit Korrosionsschutzanstrichen versehen. Abschließend erhielten die Stützen einen grauen Metallik­Farbanstrich. Die Holzdachkonstruktion wurde umfassend saniert, das Dach neu gedeckt, neue Regenwasserableitungen verlegt und die Holzkonstruktion gestrichen. Das Mosaikpflaster auf der nördlichen Bahnsteighälfte, die hier genutzt wird, ist neu verlegt worden.

Der Bahnsteig wurde instand gesetzt, das alte Aufsichtsgebäude, beschädigt und für den S-Bahn-Betrieb nicht notwendig, konnte abgerissen werden.

Zu einem späteren Zeitpunkt erfolgt die Verschiebung des Bahnsteiges über die Ollenhauerstraße zur besseren Anbindung an den Bus und die U-Bahnlinie U8.[3]

 

Die S-Bahn fuhr schon 1993. Leider nur am 4. September 1993. Die IGEB wollte zeigen, dass S-Bahnbetrieb ohne großen Aufwand möglich ist. Foto Lars MolzbergerDie S-Bahn fuhr schon 1993. Leider nur am 4. September 1993. Die IGEB wollte zeigen, dass S-Bahnbetrieb ohne großen Aufwand möglich ist. Foto Lars Molzberger

 

Am 28. Mai 1995 war es endlich soweit: Die S-Bahn Berlin GmbH nahm den S-Bahnbetrieb auf der Kremmener Bahn bis Tegel wieder auf. Die rot-gelben Züge hielten fortan am S- Bahnhof Karl-Bonhoeffer-Nervenklinik, der seit dem 29. Mai 1994 so hieß. Es ist ein Treppenwitz der Geschichte, dass der Bahnhof ausgerechnet den Namen einer Einrichtung erhielt, die rund hundert Jahre durch ihre Anwesenheit eine ganze Ortschaft in Verruf brachte.

Die Namensgleichheit zum U-Bahnhof darf nicht hinwegtäuschen, dass zum Umsteigen ein Fußweg von 280 m zurückgelegt werden muss. Also nicht das, was man sich landläufig unter einem Umsteigebahnhof vorstellt. Wie erklärt sich diese Diskrepanz? Die Planungen für die Verlängerung der U-Bahn-Linie 8 von der Osloer Straße zum heutigen Endpunkt am S- Bahnhof Wittenau (Nordbahn) reichen bis in die 1970er Jahre zurück. Der heutige Verlauf der Trasse der U8 wurde am 2. Juli 1979 durch den Berliner Bausenator Harry Ristock präsentiert.[4] Zu diesem Zeitpunkt war die politisch boykottierte S-Bahn nicht in die Verkehrsplanungen einbezogen. Das änderte sich auch nicht mit der Übernahme der Betriebsrechte der S-Bahn durch die BVG am 9. Januar 1984. Nach Ansicht des Autors hatte man nicht die Absicht, die S-Bahn auf der Kremmener Bahn wieder in Betrieb zu nehmen. Das zeigt sich sehr gut an dem Teilstück der Trasse, die den Autobahnbau weichen musste. Man ging von vornherein von der Verlegung des S-Bahnhofs aus. Bei der Konzeption des U-Bahnhofes berücksichtigte man den künftigen Übergang zum neuen Haltepunkt der S-Bahn.[5] Bei der Wiedereröffnung der S-Bahn nach Tegel unterließ man die Verlegung allein aus finanziellen Gründen.

 

Der traurige Zustand des Haltepunkts Karl-Bonhoeffer-Nervenklinik heute: Kein Dach und ins nichts stehende Stützen. 10. März 2010. Foto Lars MolzbergerDer traurige Zustand des Haltepunkts Karl-Bonhoeffer-Nervenklinik heute: Kein Dach und ins nichts stehende Stützen. 10. März 2010. Foto Lars Molzberger

 

In diesem Zusammenhang muss man auch den heutigen Zustand des Haltepunkts sehen. Nach einem Sturmschaden musste im April 2005 das Dach zur Aufrechterhaltung der Verkehrssicherungspflicht demontiert werden.[6] Die Dachstützen blieben stehen. Kleine Wartehallen dienen als Wetterschutz. 11 Jahre später hat sich am Zustand nichts geändert. Die DB Station & Service AG erklärte den Autor per E-Mail, dass das Dach denkmalgeschützt ist.[7] Deswegen blieben die Stützen stehen, weil sie bei der Verlegung des Haltepunktes wieder mitsamt dem Dach aufgebaut werden sollen. Man behilft sich mit einem Provisorium, weil man das Dach nicht wieder herstellen wollte, damit es bei der Verlegung wieder demontiert wird. Meiner Meinung nach konnten die Entscheidungsträger 2005 nicht ahnen, dass die Verlegung bis heute nicht erfolgt ist. Nach Informationen des Autors soll die Verlegung des Haltepunkts mit dem zweigleisigen Ausbau der Strecken von Schönholz nach Tegel durchgeführt werden. Geplant ist diese Baumaßnahme 2019. Bis dahin müssen die Fahrgäste mit einem skurrilen Provisorium vorlieb nehmen.[8]


Zum Abschluss: Die Bildergalerie des Haltepunkts Wittenau Kremmener Bahn

 

 

 

 

 

 Quellen und weitere Links

[1] http://www.dalldorf-net.de/ Unter Menü Das Dorf/Allgemeines/Ortsbezeichnung

[2] Die S-Bahn in den Westsektoren Berlins; Beschreibung vom 11.5.1976; Bundesarchiv Signatur B/108/60231

[3] Senator für Bau- und Wohnungswesen Berlin: Berlin baut 16, Wiedereröffnung der S-Bahn -Strecken

Schönholz-Tegel und Priesterweg-Lichterfelde Ost. 1995, Seite 22

[4] Mauruszat, Axel, Seefeldt, Alexander: Berliner U-Bahn-Linien U8. Robert Schwandl Verlag 2015, Seite 59

[5] Mauruszat, Axel, Seefeldt, Alexander: Berliner U-Bahn-Linien U8. Robert Schwandl Verlag 2015, Seite 94

[6] Berliner Verkehrsblätter 2/2006, Kurzmeldungen Seite 29

[7] E-Mail der DB Station & Service AG an den Autor vom 11. Februar 2016. Namen sind dem Autor bekannt

[8] http://www.tagesspiegel.de/berlin/ausbau-der-strecke-im-norden-von-berlin-tegel-wartet-weiter-auf-mehr-s-bahnen/11084510.html

 Der Bahnhof Karl-Bonhoeffer-Nervenklinik auf stadtschnellbahn-berlin.de

 

Veröffentlicht am 20. November 2016

Letzte Bearbeitung am 20. November 2016

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